EGMR weist Beschwerde wegen unfairen Verfahrens (Sanktionsbescheid nach § 31 SGB II) zurück

Am 8.1.1014 erreichte uns die Mitteilung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, dass unsere Beschwerde, mit der wir einen Verstoß gegen Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Anspruch auf ein faires Verfahren) im Rahmen eines Verfahrens gegen einen Sanktionsbescheid nach § 31 SGB II gerügt haben, als unzulässig verworfen wurde. Das Verfahren (und die Mitteilung des EGMR) ist auf unserer Website dokumentiert.

Anmerkung zum Verfahren und der Entscheidung des EGMR:

Die Klägerin wurde aufgrund einer telefonischen Mitteilung eines Mitarbeiters einer Zeitarbeitsfirma, nach der sie die fragliche Stelle nicht habe annehmen wollen, sanktioniert. Die Richtigkeit der Mitteilung der Zeitarbeitsfirma stand im Streit. Der betreffende Mitarbeiter wurde in der mündlichen Verhandlung, die etwa zwei Jahre nach der Bewerbung stattfand, als Zeuge geladen, konnte sich an den Vorgang jedoch nicht erinnern. Dessen ungeachtet hielt das erstinstanzliche Sozialgericht es für erwiesen, dass die Klägern die Annahme der Stelle abgelehnt hatte.

Dem Gericht genügten zwei Aktennotizen, die sich in der Verwaltungsakte fanden. Die erste dieser Notizen lautet:
"Hr. B., Gespräch war nur kurz, 7 € waren ihr zu wenig, bekäme mehr Geld vom Staat" (20.7.2007)

Die zweite Notiz lautet:
"Laut Gespräch mit Herrn B. vom 9.8.07 und Mitteilung durch D. vom 20.7.07 hat Frau E. die Stelle nicht haben wollen, da sie zu gering bezahlt sei. Das Gespräch habe nur wenige Minuten gedauert, so berichtet Herr B., da sie beim Hören des Stundenlohns sofort gesagt hätte, dass sie mehr Geld vom ALG II bekommen würde und ihr der Stundenlohn zu wenig sei. Die Aussagen von Herrn B. waren detailliert, weshalb der AV ihm glaubt. Die entgegengesetzte Darstellung der Kundin erscheint nicht glaubwürdig. Der AV hat nach dem Bericht der Zeitarbeitsfirma noch einmal persönlich mit dem zuständigen Mitarbeiter, Herrn B., gesprochen, um den Wahrheitsgehalt herauszubekommen. Daher werden Sanktionen veranlasst."

Die Berufung war nicht zulässig. Die Nichtzulassungsbeschwerde zum LSG, mit der ein Verfahrensfehler (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG) geltend gemacht wurde, blieb ohne Erfolg.

Im Ergebnis wurden damit Grundsicherungsleistungen unter das Existenzminimum gekürzt, und zwar auf der bloßen Grundlage einer telefonischen Mitteilung einer Zeitarbeitsfirma. Darin liegt ein doppelter Skandal: Zum Ersten ist es skandalös, dass eine staatliche Behörde wie das Jobcenter in einer solchen Weise mit Zeitarbeitsfirmen kooperiert und deren telefonische Mitteilung ohne eine auch nur im Ansatz nachvollziehbare Prüfung für bare Münze nimmt. Zum Zweiten ist es skandalös, dass die Instanzgerichte eine Sanktion nach § 31 SGB II bestätigt haben, ohne dieses Ergebnis auf eine nachvollziehbare Ermittlung des Sachverhalts stützen zu können.

Die Entscheidung des BVerfG ist nach dem "Hartz-IV-Urteil" vom 9.2.2010 enttäuschend, aber vielleicht angesichts der in Karlsruhe stetig steigenden Fallzahlen verständlich. Die Entscheidung des EGMR ist dagegen keine Überraschung. Sie muss interpretiert werden im Zusammenhang der dramatischen Situation des Straßburger Gerichtshofes: Die Zahl der anhängigen Verfahren ist in den Jahren 1999 bis 2011 von 12.600 auf 151.600 gestiegen. Die danach in Kraft getretene Reform ermöglicht es dem Gerichtshof nun, Beschwerden durch Einzelrichter, die durch Berichterstatter unterstützt werden, für unzulässig zu erklären. Der Berichterstatter ist dabei kein Richter, sondern ein Mitarbeiter der Kanzlei der EGMR. Der EGMR hat von dieser Möglichkeit in großem Umfang Gebrauch gemacht. Die Zahl der anhängigen Verfahren ist dadurch innerhalb von 2 Jahren um rund 50.000 auf 102.750 (30.11.2013) gesunken. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Jahr 2012 65.200 und im Jahr 2013 61.950 Beschwerden beim EGMR eingingen (Zahlen s. Website des EGMR). Ausweislich seiner Statistik hat der EGMR im Jahr 2012 über 80.556 und im Jahr 2013 über 86.658 Beschwerden entschieden. Auf jede bzw. jeden der 47 Richterinnen und Richter kommen damit mehr als 1.800 Entscheidungen pro Jahr, das sind mehr als 8 pro Werktag.

Daran wird folgendes deutlich: Verfassungsgerichte und erst recht internationale Spruchkörper wie der EGMR sind keine Einzelfallgerichte. Ihre Funktionsfähigkeit können sie nur um den Preis erhalten, in der überwiegenden Zahl der Einzelfälle auf eine Prüfung weitgehend zu verzichten, um anhand von exemplarischen Fällen, deren Auswahl immer zufällige Aspekte haben wird, Grundsatzurteile zu sprechen. Wenn die Instanzgerichte diese Grundsatzurteile (hier das "Hartz-IV-Urteil" des BVerfG) nicht umsetzen, dann kann weder das BVerfG, noch ein internationaler Spruchkörper alleine das ändern. Im vorliegenden Fall haben die Instanzgerichte versagt. Das muss leider auch in einem – im Vergleich zu anderen sehr gut entwickelten – Rechtsstaat wie Deutschland hingenommen werden.

Die Dokumentation dieses Verfahrens soll einen Beitrag zur rechtlichen und politischen Auseinandersetzung um die grundrechtliche Zulässigkeit und den sozial- und wirtschaftspolitischen Sinn der Sanktionsvorschriften leisten. Das Verfahren zeigt, dass die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsvorschriften nicht anhand des bloßen Gesetzestextes beurteilt werden kann. Vielmehr ist zu untersuchen, welche Rechtspraxis tatsächlich aus diesen Vorschriften erwächst. Diese Rechtspraxis steht in deutlich schärferem Konflikt zu den Vorgaben aus dem Urteil des BVerfG vom 9.2.2010, als es den Anschein haben mag, wenn man den Gesetzestext gewissermaßen abstrakt liest. Solange eine Sanktion auf Basis einer derart fragwürdigen Ermittlungslage ausgesprochen werden kann, sind die Sanktionsvorschriften noch weniger als ohnehin mit dem Menschenrecht auf Grundsicherungsleistungen, wie es durch das "Hartz-IV-Urteil" des BVerfG vom 9.2.2010 ausgestaltet wurde, in Einklang zu bringen. [Anmerkung als pdf]

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