Endlich! Ein Sozialgericht erklärt § 31 SGB II für verfassungswidrig

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 – "Hartz-IV-Urteil", 1 BvL 1/09 – stehen die beiden entscheidenden Sätze:

Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt [..]. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig. (Rn 137)

Dennoch werden die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in mehreren Stufen und gekürzt und schließlich vollständig gestrichen (§ 31 SGB II), wenn der Hilfeempfänger seinen Obliegenheiten nicht nachkommt.

Das Gesetz erlaubt es den Jobcentern darüber hinaus sogar, durch den Eingliederungsverwaltungsakt nach § 16 Abs. 1 Satz 5 SGB II völlig frei Obliegenheiten gegen Hilfeempfänger festzusetzen. Es gibt keine wirksame Kontrolle, die sicherstellen könnte, dass diese Obliegenheiten angemessen sind und dass der Betroffene überhaupt in der Lage ist, sie zu erfüllen. Es gibt damit nicht einmal eine hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage für den drastischen Eingriff in das Menschenrecht auf Existenzsicherung, den der Sanktionsparagraf bedeutet.

Dennoch sind Leistungskürzungen bis zum Entzug der Unterkunftskosten seit mehr als zehn Jahren alltägliche Praxis in Deutschland. Nun hat endlich ein Sozialgericht (SG Gotha, S 15 AS 5157/14, die Begründung ist noch nicht veröffentlicht) den Mut aufgebracht, ein Klageverfahren gegen einen Sanktionsbescheid nach Art. 100 GG auszusetzen, weil es überzeugt ist, dass der Sanktionsparagraf gegen das Grundgesetz verstößt. Das Bundesverfassungsgericht, das alleine berechtigt ist, Gesetze wegen Verfassungswidrigkeit zu verwerfen (vgl. Beschluss des BVerfG v. 16.12.2014, 1 BvR 2142/11), muss jetzt entscheiden, ob § 31 SGB II gegen die Verfassung verstößt.

Zwei Verfassungsbeschwerden unserer Kanzlei gegen Sanktionsentscheidungen von Jobcentern endeten mit Nichtannahmebeschlüssen einer Kammer des BVerfG, die nicht begründet wurden. Eines dieser Verfahren ist hier online dokumentiert [Verfahrensdokumentation Verfassungsbeschwerde Sanktion]. Das BVerfG kann grundsätzlich auch eine Richtervorlage durch Kammerbeschluss zurückweisen, wenn es sie für unzulässig hält (§ 81a BVerfGG). Einen Nichtannahmebeschluss sieht das Bundesverfassungsgerichtsgesetz jedoch nicht vor. Damit erscheint es jetzt wahrscheinlich, dass das BVerfG sich erstmals öffentlich inhaltlich mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 31 SGB II auseinandersetzen wird.

Ergänzend dazu: Interview mit Roland Rosenow auf Radio Dreyeckland vom 29.5.2015: [Radio Dreyeckland] [Interview]

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