Marginalisierung als Methode. Die aktuelle Rechtsprechung zum Anspruch von EU-Bürgerinnen und -Bürgern auf Leistungen nach dem SGB II

Am 03.12.2015 findet vor dem 4. Senat des BSG die mündliche Verhandlung in drei Verfahren statt, die den Anspruch von in Deutschland lebenden Angehörigen anderer EU-Staaten auf Leistungen der wirtschaftlichen Grundsicherung zum Gegenstand haben [Termintipp BSG].

Dies ist Anlass, auf zwei aktuelle und überzeugende Entscheidungen des LSG Nordrhein-Westfalen und des SG Mainz hinzuweisen, die beide zum Ergebnis kommen, dass ein solcher Anspruch bereits von Verfassungs wegen besteht:

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist ein Menschenrecht, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht (BVerfG, 18.07.2012, 1 BvL 10/10, Rn 63). Für Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union hat das Bundesverfassungsgericht keine Ausnahme gemacht. Ungeachtet dessen haben Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II und nach § 23 SGB XII keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Diese Regelung betrifft in erster Linie Staatsangehörige anderer EU-Staaten. Viele Sozialgerichte hielten diese Vorschrift für europarechtswidrig, weil sie gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004) verstößt.


Am 15.09.2015 hat der Europäische Gerichtshof im Vorlageverfahren C-67/14 im Fall einer Schwedin, die in Deutschland lebt, entschieden, dass dieser Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zulässig sei. Seither kamen viele Landessozialgerichte zu dem Ergebnis, dass Staatsangehörige anderer EU-Staaten in der Regel keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen haben (LSG Rheinland-Pfalz, 02.11.2015, L 6 AS 503/15 B ER; LSG Hamburg, 15.10.2015, L 4 AS 403/15 B ER; Bayerisches LSG, 13.10.2015, L 16 AS 612/15 B ER; Bayerisches LSG, 01.10.2015, L 7 AS 627/15 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, 28.09.2015, L 20 AS 2161/15 B ER).


Dieses Ergebnis ist schwer nachvollziehbar, weil es mit der oben genannten Entscheidung des BVerfG unvereinbar zu sein scheint. Daher ist von besonderem Interesse, wie die Landessozialgerichte begründen, dass sie dem BVerfG hier nicht folgen. Gerade diese Begründung lassen die genannten Entscheidungen jedoch vermissen. Eine substantiierte Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerfG findet hier gar nicht statt. Allenfalls wird argumentiert, Staatsangehörige von EU-Staaten hätten die Möglichkeit, in ihren Heimatstaat zurückzukehren. Daher bestehe in Deutschland kein Leistungsanspruch. Auch das ist aber ein Argument, das mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht vereinbar ist. Selbst im Fall eines illegalen Aufenthaltes in Deutschland wäre der Entzug von Grundsicherungsleistungen kein zulässiges Druckmittel zum Zwecke der Vollstreckung einer Ausreisepflicht, denn: Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren (BVerfG, 18.07.2012, 1 BvL 10/10, Rn. 121).
In der o.g. aktuellen Entscheidung hat das LSG Nordrhein-Westfalen (23.11.2015, L 6 AS 1583/15 B ER) formuliert:


Soweit diesem Anspruch entgegen gehalten wird, es stehe dem Antragsteller frei, in sein Heimatland zurückzukehren (vgl etwa LSG BW Beschluss vom 29.06.2015 - L 1 AS 2338/15 ER-B; s. auch LSG NRW Beschluss vom 20.08.2015 - L 12 AS 1180/15 B ER -, Bay LSG Beschluss vom 01.010.2015 - L 7 AS 627/15 B ER -, LSG Hamburg Beschluss vom 15.10.2015 - L 4 AS 403/15 B ER), hat dieser Einwand seine sozialpolitische Bedeutung, aber keinen inhaltlich-argumentativen Bezug zu den o.a. verfassungsrechtlichen Vorgaben.


Dass viele Landessozialgerichte dennoch vertreten, dass EU-Ausländerinnen und EU-Ausländer in vielen Fällen vom Anspruch auf Grundsicherungsansprüche ausgeschlossen seien, deutet darauf hin, dass sie der Rechtsprechung des BVerfG, nach der der Anspruch auf existenzsichernde Grundsicherungsleistungen aus dem Menschenwürdegrundsatz folgt und damit unverfügbar ist (BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09), im Grunde nicht folgen. Sie vermeiden es aber, sich dem Begründungsaufwand zu stellen, der sich daraus ergibt, gegen das BVerfG zu entscheiden, und wählen einen einfacheren und möglicherweise sogar wirksameren Weg, den man als Strategie der Marginalisierung bezeichnen kann. Indem sie das rechtliche Problem in den Entscheidungsbegründungen gar nicht erst beim Namen nennen, erwecken sie den Eindruck, es gebe gar kein Problem. Auf diese Weise werden entscheidende normative Argumente marginalisiert und so – schlimmsten Falls – der normativen Kraft, die ihnen zukommt, außerhalb eines nachvollziehbaren Begründungszusammenhangs beraubt. Urteilsbegründungen, die so arbeiten, kann man daher auch als Scheinbegründungen bezeichnen.


Die Methode der Marginalisierung verstößt gegen das rechtsstaatliche Prinzip, dass gerichtliche Entscheidungen jedenfalls in der Regel zu begründen sind (EGMR, 23.03.2003, 1021/2001, Hiro Balani v. Spain). Ein demokratisches Rechtssystem zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es der Justiz nicht zukommt, von oben herab und ohne jede Kontrolle zu dekretieren, was Recht sei. Sie muss die Macht, die sie inne hat, legitimieren, indem sie die Erwägungen, die zu einer Entscheidung geführt haben, in nachvollziehbarer Weise offen legt und sich so der kontrollierenden Kritik durch die Öffentlichkeit und die Rechtswissenschaft stellt.


Die Marginalisierung von normativen Argumenten entzieht die Rechtsprechung dieser Kontrolle, denn Entscheidungen, deren Begründungen zentrale und im Einzelfall relevante normative Argumente – etwa eine Entscheidung des BVerfG – außer Acht lassen, lassen nicht erkennen, aus welchen Gründen diese Argumente nicht berücksichtigt wurden.


Unabhängig davon, wie das BSG am Mittwoch entscheiden wird, ist es daher jedenfalls verpflichtet, seine Entscheidung auch in ihrer verfassungsrechtlichen Dimension nachvollziehbar zu begründen. Insbesondere das SG Mainz hat in der o.g. Entscheidung vom 12.11.2015 qualitative Maßstäbe für eine solche Begründung gesetzt, die für BSG als ein oberstes Bundesgericht erst recht gelten.

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